Sichtbar! Care und Krise – Resümee über eine Schieflage

In Krisenzeiten verschärfen sich soziale Ungleichheiten. Stigmatisierung und Diskriminierung nehmen zu. (Geschlechter-)Ungleichheiten werden sichtbarer, marginalisierte Gruppen sind sich selbst überlassen und vermehrt von Isolation und Ausgrenzung betroffen. Im Zuge der breit diskutierten Folgen der Corona-Pandemie und notwendigen politischen Maßnahmen nimmt auch das Evangelische Frauenbegegnungszentrum EVA Stellung zur aktuellen Situation der Care-Arbeit.

Was ist passiert während der Pandemie?

Gesellschaftliche Machtverhältnisse waren bereits vor SARS-CoV-2 verankert. Durch die Pandemie werden sie nun offensichtlich und die Verflechtungen von Diskriminierungsformen treten deutlicher hervor. Der Sektor der Care-Arbeit ist einer der vielen Bereiche, in denen Diskriminierungsformen massiv zum Vorschein kommen, wenngleich sie auch vor der Krisenbelastung alltäglich waren.

Care-Arbeit wird als eine gesellschaftlich notwendige, permanent erbrachte Leistung verstanden. Care bedeutet das Sorgen für jemanden und findet zum einen im sogenannten privaten Raum statt, so zum Beispiel im Haushalt, in der Erziehung, in der emotionalen Fürsorge und Pflege. Zum anderen betrifft Care-Arbeit den institutionellen Bereich wie Krankenpflege, Altenpflege, Erziehung und Soziale Arbeit. Im Folgenden stellen wir gesammelte Thesen und Überlegungen zur Verfügung, die im Rahmen eines EVA-Workshops erarbeitet wurden. Ziel ist, einen Beitrag zu dem Diskurs über Care-Arbeit zu leisten und damit notwendige Veränderungen anzustoßen.

Ist Care weiblich und privat? Care-Arbeit als gesamtgesellschaftliche Aufgabe

Krisen wie die Corona-Pandemie machen die Strukturen sozialer Ungleichheit sichtbar. Für den Care-Sektor der privaten, unbezahlten Arbeit wie Kindererziehung, Pflege und Haushaltsführung bedeutet dies vor allem die Sichtbarmachung dieser gesellschaftlich notwendigen Reproduktionsarbeit und deren ungleiche Verteilung zwischen Männern und Frauen. Krisenzeiten zeigen ebenso die Auswirkungen der mit der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung eng verwobenen Abwertung von Care-Arbeit als schlecht oder unbezahlte Arbeit.

Die Leistungen der unsichtbaren und unbezahlten Care-Arbeit sowie auch die gering entlohnte Care-Arbeit werden überwiegend von Frauen erbracht. Gerade in der Corona-Krise trat die nach wie vor präsente (Geschlechter-)Ungleichheit massiv in Erscheinung. Die Arbeitsbelastungen in der Alten- und Krankenpflege, in vielen Einrichtungen und Kliniken überstieg jede Belastungsgrenze. Und gerade diese, bei medizinischen Notlagen so unersetzliche Arbeit, wird von Frauen geleistet. Gleichzeitig mussten Schulen und Kindertagesstätten schließen und das Lernen, Erziehen, Pflegen und Betreuen wurde wieder in die Familie und somit in das Private verortet. Die Doppelbelastung zwischen Care-Arbeit und Lohnarbeit wurde für Paarbeziehungen zu einem Kraftakt. Insbesondere für Alleinerziehende war die Situation kaum zu bewältigen.

Care als Job der anderen? Care-Arbeit als globale Aufgabe

Im Bereich der Altenpflege wurde die bisherige Schieflage von Care-Arbeit mehr als deutlich und zeigte das Ausmaß einer bisherigen regressiven und hegemonialen, d.h. eine die soziale Dominanz von Männern gegenüber Frauen dauerhaft absichernde Praxis der Arbeitsteilung innerhalb des Care-Sektors. Denn nicht nur die institutionellen Angebote im Care-Bereich mussten neu formiert werden, auch die bislang etablierten globalen Betreuungsketten, die vor allem in der privat organisierten Altenpflege zutage treten, wurden unterbrochen. Die private Altenpflege wird in Deutschland vor allem durch transnationale Betreuungsketten gestützt, die dazu führen, dass die Pflegearbeit nicht geschlechtergerecht aufgeteilt, sondern vielmehr zwischen Frauen umverteilt wird. Inzwischen übernehmen vielfach Migrant:innen die Pflegearbeit innerhalb der Altenpflege und die Familienangehörigen der zu pflegenden Person können weiterhin ihrer Erwerbsarbeit nachgehen.

So wird das aktuelle wirtschaftliche und gesellschaftliche System, das allein durch Ausbeutung des privaten wie beruflichen Care-Bereichs in dieser Form überhaupt existieren kann, am Laufen gehalten. Dadurch wird ein nötiges Umdenken innerhalb der Care-Arbeit verhindert. Dem Prinzip Globaler Betreuungsketten liegen prekäre Arbeitsverhältnisse zugrunde. Der Stundenlohn einer 24-Stunden-Betreuungskraft innerhalb der privat organisierten Pflege ist minimal und meist fehlt es an nötigen Sozialversicherungen.

Das Global-Care-Chain-Konzept muss erneut in den jetzigen Diskurs über Care miteinbezogen und überdacht werden. Es gilt, Care als gesamtgesellschaftliche Aufgabe zu verstehen, die nicht an den Bundesgrenzen endet, sondern – unter dem Stichwort Global-Care-Chains - Globale Betreuungsketten – auch weltweit betrachtet wird. Durch die bisherige Privatisierung von Care-Arbeit werden die Probleme und die Auseinandersetzung mit der Thematik in wirtschaftlich schwächere Länder ausgelagert. Eine politische Verantwortung und ökonomische Regulierung von Care-Arbeit ist somit dringend notwendig.

Komplexität, Zusammenhänge und Feministische Diskussion von Care-Arbeit

Die feministischen Diskurse und Forderungen bezüglich Care-Arbeit finden medial und politisch Anklang, werden jedoch nicht konsequent umgesetzt. Care-Arbeit nur zu thematisieren und zu beklatschen reicht nicht aus. Care-Arbeit muss vielmehr in Verbindung mit Gender Care Gap, Gender Pay Gap und Gender Pension Gap gedacht und verhandelt werden.

Frauen machen das! (Gender Care Gap)

Der Gender Care Gap verweist darauf, dass Frauen und Männer eine unterschiedliche Zeitaufwendung für Care-Tätigkeiten übernehmen. So zeigt eine Studie des (zweiten) Gleichstellungsberichtes aus dem Jahr 2016, dass Frauen pro Tag ca. 50 % mehr Zeit für unbezahlte Fürsorgearbeit aufwenden als Männer (Gender Care Gap). Diese privat geleistete und unentlohnte Care-Arbeit ist Zeit, die einer Person nicht mehr zu ihrer eigenen freien Verfügung steht. Es ist Zeit, die fehlt, um zum Beispiel Self-Care, Hobbys und Fortbildungen nachzugehen. Eine geschlechterdiskriminierende Aufteilung von Care-Arbeit erhöht somit die Wahrscheinlichkeit (aufkommender) sozialer Ungleichheit.

Frauen machen das einfach so! (Gender Pay Gap)

Die Mehrzeit an Care-Arbeit wirkt sich aber auch durch finanzielle Nachteile auf die Lebensrealitäten von Frauen aus. Die Geschlechterlücken („Gap“ englisch für Lücke) innerhalb der Verteilung von Fürsorge-Arbeit stehen im Zusammenhang mit einer ungleichen Entlohnung und somit auch in einem Wechselverhältnis zu einer geschlechtsspezifischen Armutsgefährdung (Gender Pay Gap). Unbezahlte sowie gering bezahlte Fürsorge-Arbeit wirkt auf die finanzielle (Un-)Sicherheit von Frauen ein. Frauen müssen häufiger ihre Erwerbsarbeit aufgeben, um für pflegerische Tätigkeiten im Privaten einzuspringen. Zudem müssen sie verstärkt Teilzeitarbeit wahrnehmen, um der Doppelbelastung von Reproduktions- und Lohnarbeit Stand zu halten.

Frauen machen das ohne Absicherung! (Gender Pension Gap)

Eine Reduzierung der Berufstätigkeit wirkt sich aber nicht nur auf das Gehalt, sondern auch auf die Rente aus (Gender Pension Gap). Care-Arbeit ist noch immer mit geschlechtsspezifischen Stereotypen besetzt. So lange Care als natürliche und weibliche Eigenschaften konstruiert wird und nicht als Arbeit verhandelt wird, bleibt das Risiko, dass diese nicht als Qualifikation und als zu erlernende Kompetenz gilt, welche honoriert und entlohnt werden muss. Die Korrelation von Care-Arbeit und Lohnungleichheit wirkt erheblich auf die Lebensrealitäten und Prekarisierung von Frauen ein und erfordert eine neue Form der Auseinandersetzung. Es braucht ein Umdenken von Sozialpolitik und Gesundheitswesen, die unbezahlte und unsichtbare Arbeit mehr in den Fokus rückt. Care-Arbeit muss in Zukunft in einer gerechten Verteilung geleistet werden, als Arbeit angesehen werden und mehr Anerkennung erhalten.

Systemrelevanz und feministische Ökonomie

Nach Ausbruch des COVID-19-Virus stellten viele wirtschaftliche Unternehmen auf Home-Office um. Die Erwerbstätigkeit, die trotz der Pandemie in normalisierten und unveränderten Abläufen weiter ausgeübt werden sollte, wurde als systemrelevant deklariert und anerkannt. Die Arbeitsbereiche, die Systemrelevanz erhalten haben, sind stark im sozialen Sektor verankert und dabei jene, in denen überwiegend Frauen tätig sind. Beispiele sind medizinische Versorgung, Pflege und Erziehung – also Care-Arbeit! Sie wurden als lebensnotwendig und systemerhaltend diskutiert und bekamen politisch und medial Aufmerksamkeit.

Die Systemrelevanz spiegelt sich allerdings nicht in einer gendergerechten Verteilung oder Entlohnung wider. Viele dieser Berufe sind aus dem häuslichen Kontext heraus in die erwerbsförmige Arbeit übergegangen: Pflegepersonal in Krankenhäusern und Altersheimen, Erzieher:innen, Verkäufer:innen, Friseur:innen, aber auch Reinigungskräfte und Erntehelfer:innen als haushaltsnahe DienstleistungenDie Auslagerung von familiären Aufgaben in die Erwerbstätigkeit führte vor allem zu einer Entlastung von erwerbstätigen Männern und nicht zu einer gendergerechten Verteilung von Care-Arbeit oder einem Schutz von Frauen vor dem Prekariat. Um langfristig strukturelle Veränderungen in der Anerkennung von Care-Arbeit inkl. der haushaltsnahen Dienstleistungen zu erreichen, brauchen wir ein grundsätzlich verändertes Verständnis vom nachhaltigen und menschenfreundlichen Wirtschaften, denn ein gesellschaftliches Zusammenleben ist ohne Fürsorge-Arbeit nicht möglich.

Gerade, weil Wirtschaft und Care nicht ohne die Kategorie Gender diskutiert werden kann, muss feministische Ökonomie einbezogen werden im Diskurs über politisches und wirtschaftliches Handeln. Doch auch fern des wirtschaftlichen Sektors der Care-Arbeit muss Fürsorge gesamtgesellschaftlich neu diskutiert, besetzt und verteilt werden. Eine Anerkennung systemrelevanter Berufe reicht nicht aus, wenn Care-Arbeit im Privaten weiterhin unsichtbar und genderdiskriminierend verläuft. Die gegenwärtige Arbeitsaufteilung von Fürsorge-Arbeit ist weitgehend geschlechtsspezifisch zugewiesen und wird übermäßig von Frauen übernommen. Diese Verteilung beruht vor allem auf einer konstruierten, geschlechtlichen Normierung und zweigeteilte Geschlechterordnung. In der Care-Arbeit wird somit insbesondere das binäre Geschlechterverhältnis sichtbar und verhindert zugleich emanzipatorische Veränderungen.

Geschlechtergerechtigkeit! Die mediale Anerkennung von Care-Arbeit reicht nicht aus!

Eine Geschlechtergerechtigkeit kann nur funktionieren, wenn auf der einen Seite eine emanzipatorische Arbeitsteilung von Care-Arbeit erfolgt und auf der anderen Seite ökonomische Veränderungen, wie eine Umstrukturierung von Arbeitsverhältnissen und gleichberechtigte Entlohnung, gesichert werden. Es braucht eine radikale Neubesetzung und geschlechtergerechte Umverteilung von Care-Arbeit. Dass diese Themen infolge der Corona-Pandemie im politischen und medialen Diskurs zunehmend thematisiert werden, ist stark zu begrüßen. So finden die feministischen Forderungen nach einer geschlechtergerechten Verteilung und Sichtbarmachung von unsichtbarer und unbezahlter Care-Arbeit Resonanz in der Krise, kommen aber nicht über den Status als Impulsgeber oder Warnsignal, um strukturelle Veränderungen herbeizuführen, hinaus.

Die aktuellen Forderungen nach einer fairen Bezahlung und eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen bedürfen einer politischen Umsetzung mit langfristiger Strategie - einmalige Zahlungen und mediale Anerkennung der Erwerbstätigkeiten reichen nicht. Auswirkungen der Krise, wie zum Beispiel die Überlastungen unseres Gesundheitssystems bedürfen weiterhin der politischen Antwort, um strukturelle Veränderungen konsequent zu etablieren. Es wird auch in Zukunft feministische Kollektive brauchen, um gesellschaftliches Zusammenleben radikal neu zu gestalten und die Politik lautstark an ihre Verantwortung für alle zu erinnern.

Erschienen in: Evangelische Frauen aktuell 2 / Juli 2021